Von Ewald Ackermann, SGB
Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts erstarkende Arbeiterbewegung stellt vor allem den 8-Stunden-Tag in den Mittelpunkt ihrer Forderungen. Die US-amerikanischen Gewerkschaften wollen diese Forderung am 1. Mai 1886 durchdrücken. Denn der 1. Mai ist in den USA der Tag, an dem die Arbeiter traditionell ihre neuen Arbeitsbedingungen aushandeln. In Chicago beginnt an diesem 1. Mai ein umfassender Streik, der am 4. Mai in einem Attentat auf die Polizei und einer offenen Strassenschlacht endet. In einem Farceprozess werden anschliessend 7 Arbeiterführer zum Tod verurteilt, an vieren wird die Strafe vollzogen, einer begeht in der Zelle Selbstmord, zwei werden zu lebenslänglich «begnadigt».
Beschluss des Arbeiterkongresses
Auch in Europa und Australien fordert die junge Arbeiterbewegung vor allem humane Arbeitsbedingungen und dabei primär den 8-Stunden-Tag. Das will der internationale Arbeiterkongress von Paris 1889, der sich als II. Internationale konstituiert, auch dadurch erreichen, dass «gleichzeitig in allen Ländern und in allen Städten die Arbeiter an die öffentlichen Gewalten die Forderung richten, den Arbeitstag auf 8 Stunden festzusetzen.» Der US-amerikanische Gewerkschaftsbund will in Erinnerung an den Streik von Chicago diesen Kampf um den 8-Stunden-Tag am 1. Mai 1890 beginnen, die europäischen Kongressteilnehmenden akzeptieren das Datum. 1891 entscheidet dann ein weiterer Kongress der II. Internationalen, den 1. Mai nunmehr an jedem Tag als Kampftag zu begehen. Der 1. Mai 1890 wird je nach Land sehr verschieden gefeiert: In London versammeln sich bereits 300‘000 Menschen zur Protestkundgebung im Hyde Park. In Deutschland gibt es nur wenige kleinere Aufmärsche. Der Kaiser hatte der Armee „erbarmungslose Unterdrückung von Unruhen“ befohlen, und die SPD, zuvor während 11 Jahren verboten, wollte ihren Aufstieg nicht gefährden.
Schweiz auf der Höhe der Zeit
In der Schweiz wird der 1. Mai 1890 bereits in 34 Orten gefeiert. Der SGB zählte damals knapp 5000 Mitglieder, die SPS war ganze 9 Monate alt. «Einige Tausend» dürften an diesem Tag auch der Arbeit fern geblieben sein, weitaus am meisten in Bern, wo am frühen Nachmittag bereits rund 2000 gezählt werden, die durch die Stadt marschieren. Hinter einer Fahne, die das «Gesetz der Menschenrechte» fordert. Mehr Zulauf haben aber in den meisten Orten die Abendveranstaltungen. An vielen Orten kommt es zu konkurrenzierenden Aufmärschen, vor allem zwischen Einheimischen und Zugezogenen (nicht nur AusländerInnen). Die gute Quellenlage über die Teilnahme an den ersten 1. Mai-Feiern rührt daher, dass der Bundesanwalt die Manifestationen systematisch bespitzeln liess ...
1919 – 50'000 in Zürich
1910 werden in der Schweiz 96 Orte mit 1. Mai-Feiern gezählt. In Zürich werden vor dem 1. Weltkrieg mehrmals über 10‘000 Teilnehmende gezählt. Inhaltlich dominiert bis zum 1. Weltkrieg ganz klar die Forderung nach dem 8-Stunden-Tag. Mit dem 1. Weltkrieg kommt ein Einbruch, mit der wachsenden Not der Arbeiterfamilien 1918 aber wieder ein Zuwachs an Teilnehmenden. Die grösste Schweizer 1. Mai-Demo findet 1919 mit rund 50'000 Teilnehmenden in Zürich statt. Kurz zuvor war – als späte Ernte des Generalstreiks – der 8-Stunden-Tag (genauer: die 48-Stunden-Woche) für viele Branchen eingeführt worden.
Hin zum Volksfest
Trotz diesem Erfolg: 1.Mai-Feiern werden auch künftig im ganzen Land organisiert. Innerlinke Richtungskämpfe prägen die 1. Mai-Feiern vor allem in den Zwanziger-, der Kampf gegen Faschismus in den Dreissiger- und die allmähliche Integration in den bürgerlichen bzw. sozialdemokratisch-gewerkschaftlich mitgeprägten Staat ab den Dreissigerjahren. SGB und SPS empfehlen 1938 zum ersten Mal, an den Umzügen die Schweizerfahne mitzuführen. In den 50er-Jahren sind die 1. Mai-Feiern unverhüllt vom Willen zu dieser Integration geprägt. Man gehört jetzt auch dazu – und symbolisiert dies an den Umzügen mit Trachtengruppen und Ehrendamen und mit bescheideneren Forderungen. Militante Äusserungen sind nur mehr am Rand zu vernehmen. Wichtigste oppositionelle Stimme sind die «Gastarbeiter», die in Zürich ab den frühen 60er-Jahren die Umzüge quantitativ zu dominieren beginnen.
Gewerkschaftliche Wiederaneignung
Kurze Zeit später bringen die vielen Fraktionen der Neuen Linken, die Studenten-, Frauen-, Ökologie-, Friedens-, Drittwelt- und Anti-AKW-Bewegung, neue Farbe und neue Forderungen in die Demonstrationen. Vorneweg «vaterländische Weisen spielende Arbeitermusiken, bald danach die streitbaren Jungtürken»: So beschreibt die Tagwacht einen Tag später den 1. Mai 1969 in Bern.
Seit den 70er Jahren ändert sich die Zusammensetzung der Demonstrationszüge. Statt geschlossener von den Gewerkschaften und der SP festgefügter Züge sind ab dieser Zeit drei Zentren auszumachen: die klassischen GewerkschafterInnen, die Exilgruppen und die neuen sozialen Bewegungen. Die drei Blöcke bewegen sich in den 20 Jahren darauf nur vorsichtig aufeinander zu. Seit den 90er Jahren zeichnet sich, von Einzelfällen abgesehen, wieder eine Verschmelzung und Vereinheitlichung ab, zumeist unter gewerkschaftlicher Leitung. Das überrascht nicht, haben sich doch die Gewerkschaften in den letzten 25 Jahren gründlich reformiert. Sie stellen heute schweizweit die klar grösste MigrantInnen-Organisation dar. Und viele sozial Bewegte ehemaliger kleinerer Organisationen, die sich links der SP positionierten, spielen in der Gewerkschaft eine wichtige Rolle, sei es als ProfigewerkschafterInnen oder als «militants».
Kampftag auch in den Corona-Jahren
Aussergewöhnliche Situationen erfordern besondere Mittel: In den beiden Corona-Jahren 2020 und 2021 war es unsicher bzw. unmöglich, grössere Versammlungen durchzuführen. Doch die Gewerkschaften blieben nicht untätig: Gemeinsam mit ihrer Basis zeigten sie, dass der 1. Mai notfalls auch als online-Veranstaltung ohne Grossaufmärsche Zigtausende mobilisieren und ein starkes Zeichen setzen kann.