APPELL AN DEN BUNDESRAT UND DAS PARLAMENT
Wann, wenn nicht jetzt? Frauen* zählen!
Die Corona-Krise stellt uns alle vor ungeahnte Herausforderungen: Gesellschaftlich, wirtschaftlich, so-zial. Auch wenn die schlimmsten Befürchtungen nicht eingetroffen sind, wird uns das Virus noch lange beschäftigen. Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, wie wir die akuten Folgen der Krise bewältigen können. Wir müssen uns aber auch mit der Frage auseinandersetzen, welche Lehren wir aus der aktuellen Situation ziehen können.
Wir, die unterzeichnenden Organisationen dieses Briefes, vertreten Millionen Frauen* in der ganzen Schweiz. Wir wenden uns mit einem dringenden Appell an den Bundesrat und das Parlament: Die Frauen* reden mit ihren Forderungen bei der Bewältigung dieser Krise mit.
Wir richten uns deshalb mit den folgenden Forderungen an den Bundesrat und das Parlament:
1. Wir bestimmen mit am Verhandlungstisch!
Die Corona-Krise zeigt viele geschlechterspezifische Probleme unserer Gesellschaft exemplarisch auf. Die Frauen sind die sozialen Airbags der Gesellschaft. Dieser Perspektive wird jedoch weder in der Analyse noch in den Massnahmen genügend Rechnung getragen. Das liegt unter anderem da-ran, dass Frauen* dort untervertreten sind, wo die Entscheide getroffen werden. Darum muss diese Verteilung jetzt geändert werden. Nur so kommen alle Perspektiven und Anliegen zu Wort.
2. Massnahmen zum wirtschaftlichen Aufschwung müssen die reale Lebenssituation aller Frauen* in der Schweiz berücksichtigen.
Wir Frauen* sind eine treibende Kraft in der Wirtschaft. Wir leisten bezahlte und unbezahlte Ar-beit, wir sind aber auch Konsumentinnen*. Der Bundesrat und das Parlament stehen in der Ver-antwortung, die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise für alle abzumildern. Er muss deshalb die spezifische Situation der Frauen* mit ihrem bezahlten und unbezahlten Einsatz für Familie und Gesellschaft berücksichtigen. Voraussetzung dafür ist konsequentes Gender Budgeting und die Umsetzung der Lohngleichheit auf allen politischen Ebenen. Gender Budgeting ist die konsequente Analyse aller öffentlichen Ausgaben hinsichtlich ihrer geschlechterspezifischen Wirkung. Das staatswirtschaftliche Handeln muss daraus abgeleitet werden.
3. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie muss erreicht werden.
Corona hat gezeigt: Ohne flächendeckende familienergänzende Betreuung und/oder Grosseltern funktioniert es nicht. Denn Kinderbetreuung läuft nicht nebenher, sie braucht Zeit und Energie und ist ein Vollzeitjob. Frauen* leisten pro Jahr eine Milliarde Stunden unbezahlte Kinderbetreuung in der Familie. Das ist mehr Arbeit als alle Bauarbeiter zusammen leisten. Dazu kommt noch die Be-treuung von weiteren Angehörigen (betagte Eltern etc.). Wenn wir für den Wiederaufbau der Schweizer Wirtschaft alle aktiven Frauen* und Männer* einsetzen wollen, um den Fachkräfteman-gel zu minimieren und den Neuanfang zu schaffen, dann braucht es parallel dazu eine professio-nelle, staatlich finanzierte Betreuungsoffensive. Bundesrat und Parlament sind dringend dazu auf-gefordert, mit der seit langem geforderten, dringend notwendigen Etablierung einer zeitgemässen Familienpolitik zu beginnen, um eine bessere Vereinbarkeit von Beruf- und Privatleben zu gewährleisten.
4. Die Arbeitsbedingungen in den systemrelevanten Berufen müssen verbessert werden.
Wir hätten die akute Phase der Krise ohne die immense Arbeit von Menschen in den sogenannten systemrelevanten Berufen nicht überstanden. In vielen dieser Branchen sind Frauen* stark über-vertreten. So sind beispielsweise rund 86% aller Pflegefachpersonen, 92% aller Kinderbetreuer*in-nen und zwei Drittel aller Detailhandelsangestellten Frauen*. Gleichzeitig sind genau hier die Ar-beitsbedingungen miserabel und die Löhne viel zu tief. Für die Frauen*, die diesen systemrelevan-ten Arbeitseinsatz leisten, reicht das «Klatschen» schon lange nicht mehr, sie fordern unmissver-ständlich konkrete Verbesserungen. In diesem Sektor besteht ganz klar grosser Handlungsbedarf.
5. Gewalt gegen Frauen* ist eine Krise mit epidemischem Ausmass – auch vor und ohne Corona.
Jede zweite Frau* in der Schweiz gibt an, in ihrem Leben einmal Opfer von sexualisierter Gewalt geworden zu sein. Durchschnittlich stirbt alle zwei Wochen eine Frau* durch ihren Partner oder Ex-Partner. Seit langem weisen Opferhilfestellen, Frauen*häuser und Frauen*organisationen da-rauf hin, dass es immer noch viel Handlungsbedarf in diesem Bereich gibt. Die Schweiz hat 2017 die Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Ge-walt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) ratifiziert. Darin ist klar festgehalten (Artikel 1, Abs.1 Buchstabe c und d), dass die wir ein Anrecht auf eine nationale, ausreichend finanzierte Koordina-tion und Strategie gegen Gewalt an Frauen* haben. Und zwar zum Schutz und zur Unterstützung aller gewaltbetroffenenen Frauen* und Mädchen*, unabhängig vom Aufenthaltsstatus, Alter, Be-hinderung, sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität. Es braucht unter anderem ausrei-chend finanzierte Plätze in Frauen*häusern und Schutzunterkünften in allen Kantonen, die volle Kostenabdeckung der Folgekosten durch Versicherungen, eine 24 Stunden-Beratung für Opfer, systematische Präventionskampagnen in der ganzen Schweiz und Weiterbildungsangebote für jeg-liche relevante Berufsgruppen.
6. Es braucht spezifische Unterstützung für Migrantinnen*, denn sie tragen die Kosten der Krise doppelt stark.
Viele Migrantinnen* arbeiten in schlecht bezahlten Verhältnissen: Als Haushälterinnen* in Privat-haushalten, als Putzkräfte, in der Gastronomie, in der Pflege, als Verkäuferinnen* und in der Kin-derbetreuung. Migrantinnen* sind also häufig in Branchen tätig, die besonders stark von der Corona-Krise betroffen sind und in denen die Arbeitsverhältnisse mit Schwarzarbeit, Temporär- und Stundenlohnanstellungen etc. prekär sind. Je unsicherer ihr Aufenthaltsstatus, desto stärker tragen sie die Kosten der Krise. Sans-Papiers-Frauen* haben keinerlei soziale Absicherung, viele andere Migrantinnen* getrauen sich nicht, Sozialhilfe zu beziehen, aus Angst ihren Aufenthalt zu gefährden oder die Chancen auf einen sicheren Aufenthaltsstatus zu riskieren. Dies kann migran-tische Frauen* und deren Familien in existenzielle Not bringen. Wir fordern Massnahmen, damit diese Frauen* unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus Zugang zu den nötigen Unterstützungsleis-tungen bekommen. Zusätzlich fordern wir Massnahmen, damit die soziale Sicherheit aller migran-tischen Frauen* längerfristig besser gewährleistet ist.
7. Die Finanzierung der Krise darf nicht auf dem Rücken der Frauen* geschehen.
Abbaurunden im Care- und Sorgebereich, also im Gesundheitswesen, im Pflegebereich, in der Bil-dung und in der Kinder- und Altenbetreuung etc. treffen Frauen* doppelt. Einerseits sind Frauen* in genau diesen Branchen proportional übervertreten und sind deshalb besonders betroffen, wenn sich die Arbeitsbedingungen verschlechtern. Andererseits führt der Abbau von bezahlbaren Dienstleistungen im Care-Sektor dazu, dass Frauen* und im speziellen Migrantinnen* diese Arbeit
schlecht oder sogar unbezahlt übernehmen müssen: Wenn zum Beispiel die Spitex die Betreuung von betagten Familienangehörigen nicht mehr oder weniger unterstützt, müssen häufig weibliche Verwandte einspringen. Diese Dynamik akzentuiert das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und führt dazu, dass Frauen* ihr bezahltes Arbeitspensum reduzieren müssen, um die so-zial relevante unbezahlte Arbeit im System Familie zu übernehmen. Diese familiäre Dynamik hat langfristige negative Auswirkungen für die Stellung der Frauen* auf dem Arbeitsmarkt und massive Einbussen in ihren Altersrenten zur Folge. Das muss jetzt aufhören!